Die Europäische Union
Wie hat sich die Europäische Union seit der Deutschen Einheit entwickelt? Wie arbeitet das europäische Parlament? Wie kann die EU aktuelle Herausforderungen wie die Eurokrise, den Brexit und die Flüchtlingsmigration bewältigen? Und wie soll die Zukunft Europas aussehen? Mit diesen Fragen beschäftigten sich die 14 Teilnehmer des Seminars „Die Europäische Union – Von der Deutschen Einheit zu den zukünftigen Herausforderungen“ vom 03. bis 05. Oktober in der Villa Lessing in Saarbrücken.
Passend zum Tag der deutschen Einheit begann das Seminar mit einem Vortrag von Dr. Gérard Bökenkamp vom Think-Tank Open Europe Berlin über die europäische Geschichte seit der Wiedervereinigung. Durch die Angst der Nachbarländer vor einer erneuten Vormachtstellung Deutschlands in Europa seien weitere Schritte der europäischen Integration quasi zur Bedingung für die Deutsche Einheit gemacht worden. Während seitdem insbesondere auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik beispielsweise durch die Euro-Einführung deutliche Fortschritte gemacht worden seien, gebe es dagegen u.a. noch keine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Insgesamt würden verschiedene Einstellungen der Mitgliedsländer zu politischen Grundsatzfragen die europäische Einigung erschweren. Daher sei es nicht (primär) das Ergebnis schlechter Politik, dass nicht alle Ziele der europäischen Integration seit der deutschen Wiedervereinigung erreicht wurden, sondern vielmehr eine Folge der sehr hoch gesteckten Erwartungen.
Am nächsten Morgen hieß es dann früh aufstehen, denn am zweiten Seminartag stand eine Reise nach Straßburg auf dem Programm. Zunächst lernten wir bei einer Stadtführung die bewegte Geschichte der elsässischen Stadt kennen, die seit dem Verlust ihrer Unabhängigkeit im Jahr 1681 zweimal dem deutschen und dreimal dem französischen Staatsgebiet zugehörig war. Die verschiedenen architektonischen Einflüsse dieser historischen Entwicklung sind bis heute deutlich im Stadtbild sichtbar. Dabei bekamen wir auch eine Kostprobe des elsässischen Dialekts zu hören, welcher ein wenig wie eine skurrile Mischung aus Pfälzisch, Schwäbisch und Französisch klingt.
Nach dem Flammkuchenessen an der Kathedrale stand dann das Highlight des Seminars an: Der Besuch des Europäischen Parlaments. Zunächst besuchten wir den Plenarsaal, wo wir die Eurokrise quasi live erleben konnten, da gerade eine Debatte über die makroökonomische Situation in Griechenland auf der Tagesordnung stand. Hier wurde deutlich, dass die bisherige Rettungspolitik noch nicht zu einer Verbesserung der Lage des Landes geführt hat. So wurde nun über ein breites Spektrum weiterer Maßnahmen gesprochen, das vom Schuldenerlass bis hin zum sofortigen Euroaustritt reichte. Anschließend sprachen wir mit dem Europaabgeordneten Michael Theurer über seine Arbeit im Europäischen Parlament. Zum Abschluss diskutierten wir mit einem Mitarbeiter des Besuchsdienstes über die europäischen Institutionen und den Fortschritt der europäischen Integration angesichts des immer stärker werdenden Nationalpopulismus in einigen EU-Mitgliedsländern.
Nach der Rückkehr in die Villa Lessing referierte Marcus Baulig, Doktorand an der Universität des Saarlandes, über die Wirtschaftspolitik der Europäischen Union. Dabei skizzierte er zunächst die historische Entwicklung von der 1951 gegründeten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl über den Maastricht-Vertrag von 1992 bis hin zur Euro-Einführung im Jahr 2002. Anschließend erklärte er das Zusammenspiel der wirtschaftspolitischen Institutionen der EU anhand der Reaktion auf die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007 und die darauf folgende Staatsschuldenkrise. Während man zur Abwendung dieser akuten Krisensituation vergleichsweise souverän reagiert habe, seien andere Aspekte der EU-Wirtschaftspolitik wie beispielsweise die interventionistische Agrarpolitik aus liberaler Sicht reformbedürftig. Insgesamt stehe Europa angesichts der nach wie vor schwierigen ökonomischen Situation in den südlichen Euroländern aber auch in der Wirtschaftspolitik vor der Grundsatzfrage zwischen Konvergenz und Divergenz: Soll der Weg in Richtung einer vollständigen Wirtschaftsunion gehen oder ist die Rückbesinnung auf die Prinzipien des gemeinsamen Binnenmarkt erstrebenswerter?
Der letzte Seminartag begann mit einem Vortrag von Dr. Rolf Steltemeier, Privatdozent am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und Europabeauftragter des BMZ, über die Außen- und Entwicklungspolitik der EU. Am Beispiel des Umgangs mit fragilen Staaten und Regionen erklärte er, wie schwierig es ist, Europa als „wertebasierten, sichtbaren und wirksamen Akteur“ in der globalen Weltordnung zu positionieren. In der Außen- und Entwicklungspolitik sei der Zielkonflikt zwischen machtpolitischen Interessen und Werten und die daraus resultierende Doppelmoral besonders offensichtlich. Was bedeute die Wertegemeinschaft, die in Artikel 2 des EU-Vertrags verankert ist, für die politische Praxis der EU? Die Werteunion habe bisher stets im Hintergrund der Wirtschaftsunion gestanden und müsse nun durch eine stärkere europäische Integration bei der Außen- und Innenpolitik auch in den Vordergrund rücken, um nicht eine bloße Leerformel zu bleiben.
Zum Abschluss sprach Clemens Schneider über die Zukunft der EU zwischen Bundesstaat und Staatenbund. Als Managing Director von Prometheus – Das Freiheitsinstitut arbeitete er u.a. an der Entwicklung eines Konzepts für ein „Europa der Bürger“ mit. Demnach sei die bedrohliche Entwicklung zurück zum Nationalismus in Europa eine Konsequenz des wahrgenommenen Demokratiedefizits der europäischen Institutionen. Zentral sei dabei die Frage, was auf welcher Ebene entschieden werde und ob die Entscheidungsfindung für die Bürger nachvollziehbar sei. Vor diesem Hintergrund sprach er sich für ein „Europa der Regionen“ aus, in welchem kleine Regionen mit ca. 1-10 Mio. Einwohnern in einem gemeinsamen europäischen Rahmen organisiert sein sollen. Der europäische Rahmen könnte beispielsweise nach dem Club-Prinzip oder dem Prinzip der Hanse organisiert werden, um Vielfalt und Flexibilität in Europa zu ermöglichen. Die kleinen Regionen wären entsprechend selbstbestimmt und könnten auf den Gebieten freiwillig miteinander kooperieren, auf denen dies für sie vorteilhaft ist.
Das Seminar machte deutlich, dass die europäische Integration seit der Wiedervereinigung deutliche Fortschritte gemacht hat. Jedoch steht das europäische Projekt aktuell vor großen ökonomischen und politischen Herausforderungen. Diese zu meistern und daraus gestärkt in die Zukunft zu gehen ist die Aufgabe, der die Abgeordneten und Mitarbeiter der europäischen Institutionen tagtäglich gegenüberstehen. Dabei müssen sie insbesondere die Frage beantworten, welchen Weg die EU einschlagen soll: Bundesstaat oder Staatenbund? Herzlichen Dank an Julia Münzenmaier, das Team der Villa Lessing und den Europaabgeordneten Michael Theurer für die hervorragende Organisation dieses interessanten Seminars!
Seminarleitung: Julia Münzenmaier
Text: Matthias Göhner
Fotos: Julia Münzenmaier, Fabian Kurz & Matthias Göhner