Gesundheit – Die Ware der Nation
Wie hat sich das Gesundheitswesen in den letzten Jahren verändert? Welche Konsequenzen bringt die zunehmende Ökonomisierung des Gutes „Gesundheit“ mit sich? Wie kann trotz des demographischen Wandels eine gute medizinische Versorgung gewährleistet werden? Mit diesen und ähnlichen Fragen befassten sich die 34 Teilnehmer des Seminars „Deine Gesundheit – Die Ware der Nation“ vom 11. bis 13. November in der Theodor-Heuss-Akademie. Da das Seminar von der Initiative Gesundheitspolitik und dem Arbeitskreis Wirtschaft & Soziales gemeinsam organisiert wurde, trafen sowohl bei den Referenten als auch bei den Teilnehmern Mediziner und Ökonomen aufeinander, was spannende Diskussionen versprach.
Zu Beginn des Seminars referierte Dr. Michael Reng, Chefarzt an der Goldberg-Klinik Kehlheim, über die Möglichkeiten und die Grenzen von Telemedizin. Unter Telemedizin verstehe man die Überbrückung von räumlicher und zeitlicher Distanz bei der medizinischen Diagnose und Behandlung durch den Einsatz von Telekommunikationstechnologie. Die Einsatzmöglichkeiten von Telemedizin seien vielfältig: Von der digitalen Krankenakte auf der Gesundheitskarte über die Tele-Radiologie bis hin zum „Tele-Notarzt“ würden bereits verschiedene Konzepte erprobt. Doch sei nicht alles, was technisch möglich ist, auch in der Praxis sinnvoll. Schließlich könne Telemedizin den persönlichen Kontakt zwischen Arzt und Patient nicht ersetzen und auch die mit Telemedizin verbundenen Kosteneinsparungen würden oft massiv überschätzt. Zudem spiele der Datenschutz angesichts der ärztlichen Schweigepflicht eine wichtige Rolle. Nichtsdestotrotz gebe es viele sinnvolle Einsatzmöglichkeiten für Telemedizin – vor allem dann, wenn die neuen Technologien ergänzend und nicht ersetzend zum persönlichen Kontakt zwischen Arzt und Patient eingesetzt wird.
Am Samstagmorgen berichtete Dirk Meyer über seine Arbeit als Patientenbeauftragter der Landesregierung NRW. Die Aufgabe des Patientenbeauftragten sei es, die Beschwerden und Erfahrungen von Patienten zu bündeln und an die verantwortlichen Entscheidungsträger heranzutragen und so Probleme im Gesundheitssystem zu beseitigen. Das Amt diene ebenfalls dazu, die Patientensouveränität im Gesundheitssystem zu stärken. Diese müsse auch bei der fortschreitenden Ökonomisierung des Gesundheitssystems gewahrt bleiben.
Anschließend sprach Cornelia Stolze, Wissenschaftsjournalistin und Autorin des Buches „Krank durch Medikamente“, über die Geschäfte der Gesundheitsindustrie. Die eher negative öffentliche Wahrnehmung von großen Pharmakonzernen sei auf eine Vielzahl von Skandalen in der Gesundheitsindustrie zurückzuführen. Methoden wie die Manipulation von Forschungsergebnissen oder die Bestechung von Ärzten seien keine seltenen Phänomene. Daneben werde mit allen Mitteln versucht, das bestehende Werbeverbot für verschreibungspflichtige Medikamente zu umgehen und durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit „Volkskrankheiten“ zu erfinden, um neue Absatzmärkte für Medizinprodukte zu erschließen. Als Bürger müsse man sich daher gezielt aus unabhängigen Quellen informieren.
Über die Vor- und Nachteile von Neuroenhancement ging es im Vortrag von Prof. Dr. Nicola Erny, Professorin für Sozialphilosophie an der Hochschule Darmstadt. Darunter versteht man – im Gegensatz zur kurativen Behandlung, also der Therapie von Krankheiten – Maßnahmen zur psychischen und physischen Leistungssteigerung über das natürliche Maß hinaus. Dabei spiele nicht nur die medizinische Perspektive eine Rolle; man müsse auch fragen, welche Auswirkungen die Nutzung von Neuroenhancement auf die Gesellschaft habe. Auf der einen Seite könne diese Form der Selbstoptimierung für einige Individuen etwas Wünschenswertes darstellen. Auf der anderen Seite entstehe ein Gerechtigkeitsproblem, denn ähnlich wie beim Doping im Sport könne ein Individuum, das sich der Einnahme dieser Substanzen verweigert, nicht mit der Spitzengruppe mithalten, sodass ein gesellschaftlicher Druck zum Neuroenhancement entstehen könne. Folglich sei die Frage zu klären, in welchem gesellschaftlichen Rahmen sowohl die Freiheit zur Entscheidung für Neuroenhancement als auch die Freiheit zur Entscheidung gegen Neuroehancement für jedes Individuum aufrechterhalten werden kann.
Im Anschluss referierte Prof. Dr. Dirk Sauerland, Professor für Institutionenökonomik und Gesundheitspolitik an der Universität Witten/Herdecke über die Rolle des Staates im Gesundheitswesen. Obwohl mit etwa 11% des Bruttoinlandsprodukts vergleichsweise viel für das Gesundheitssystem ausgegeben würde, sei der subjektive Eindruck der Deutschen von der Gesundheitsversorgung in der Bundesrepublik im Durchschnitt eher schlecht. Folglich stelle die Suche nach einem effizienten System zur Bereitstellung einer qualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung eine wichtige Herausforderung dar. Aufgrund der Eigenarten von Gesundheitsmärkten, wie beispielsweise die Existenz vielfältiger Informationsasymmetrien, könne der Marktmechanismus allein dieses Ziel nicht erfüllen, sodass staatliches Eingreifen grundsätzlich gerechtfertigt sei. Der staatliche Eingriff allein sei jedoch keineswegs die Lösung aller Probleme, sondern bringe neue Problemfelder mit sich. Beispielsweise trete der Staat im Gesundheitswesen sowohl als Regelsetzer als auch als Zahler und Bereitsteller in Erscheinung. Aus diesen drei verschiedenen Rollen entstünden Zielkonflikte, die im politischen Prozess zu debattieren seien.
Im darauf folgenden Vortrag sprach Dr. Helmuth Isringhaus, Herzthoraxchirurg und Leiter des Gesundheitsforums Saar, über die Auswirkungen von finanziellen (Fehl-)Anreizen im Gesundheitssystem. Beispielsweise würden in Deutschland im internationalen Vergleich übermäßig viele Hüft- & Kniegelenksoperationen vorgenommen, da die Fallpauschalen nach der DRG-Klassifikation (Diagnosis Related Groups) für diese Eingriffe relativ hoch seien. Insgesamt seien die Gesundheitsausgaben pro Kopf in Deutschland im Vergleich zu den anderen OECD-Mitgliedsstaaten nicht nur überdurchschnittlich hoch, sondern würden auch vergleichsweise stark wachsen. Diese Entwicklung ließe sich jedoch nicht primär auf Ineffizienzen im Gesundheitssystem zurückführen – stattdessen gebe es diverse andere Faktoren, beispielsweise den demographischen Wandel, den Fortschritt in der Medizin und die allgemeine Zunahme des Wohlstandes, die für den Anstieg der Gesundheitsausgaben in der Bundesrepublik verantwortlich seien.
Der letzte Seminartag begann mit einem Vortrag von Bernd Christl, Leiter von eu-patienten.de (der auf einer EU-Vorschrift basierenden nationalen Kontaktstelle für grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung in Deutschland), über die Probleme der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung in der Europäischen Union. Nach einer kurzen Einführung in die rechtlichen Grundlagen machte er anhand verschiedener Beispiele deutlich, dass die Regelungen für den normalen Patienten ohne Beratung durch Experten kaum nachvollziehbar seien. Allerdings gebe es keine einfache Lösung für eine EU-weite Gesundheitsversorgung, denn die Krankenversicherungssysteme der ärmeren Mitgliedsstaaten seien mit der Finanzierung von den wesentlich teureren Behandlungen in den wohlhabenderen Mitgliedsstaaten schlicht überfordert. Zugleich seien die Gesundheitssysteme der einzelnen Mitgliedsstaaten so grundsätzlich verschieden, dass eine Vereinheitlichung zunächst eine Verständigung auf eine bestimmte Organisationsform des Gesundheitssystems erfordere.
Zum Abschluss der Seminars beleuchteten Stefan Schmeier und Jan Zeiler, Prozessmanager bei orthoteam Köln, die Rolle von Ärzten als Unternehmer. Obwohl die Arbeit als niedergelassener Arzt auf vielen Ebenen unternehmerisches Handeln erfordere, würden sich manche Ärzte nicht als Unternehmer verstehen. Dabei könne durch die Anwendung von betriebswirtschaftlichem Wissen wie beispielsweise Prozessmanagement, Mitarbeiterführung und Kostencontrolling der Praxisalltag erheblich verbessert werden. Angesichts des zunehmenden Kostendrucks im Gesundheitssystem sei u.a. auch die Verbreitung von medizinischen Versorgungszentren (MVZs) als Alternative zur klassischen Arztpraxis zu beobachten. In solchen größeren medizinischen Einrichtungen müsse der einzelne Arzt die betriebswirtschaftlichen Aufgaben nicht mehr selbst übernehmen, sondern könne diese Tätigkeiten auf speziell ausgebildete Verwaltungsmitarbeiter übertragen. Dadurch ließen sich nicht nur Effizienzsteigerungen realisieren, auch könne sich der Mediziner wieder voll auf seine eigentliche Arbeit fokussieren.
Insgesamt machte das Seminar deutlich, dass im Gesundheitswesen durch das Aufeinanderprallen von Medizin und Ökonomie viele Konfliktpotentiale entstehen. Während Mediziner oft den Gesundheitszustand ihrer Patienten um jeden Preis verbessern wollen und dabei die Kosten der Behandlungen vernachlässigen, geht es Ökonomen um die effiziente Bereitstellung dieser Gesundheitsdienstleistungen. Daraus muss jedoch nicht immer ein Zielkonflikt entstehen. Es existieren ebenso viele Situationen, in welchen ökonomisches Wissen in der Lage ist, Kostensenkungen zu erzielen und zugleich die Qualität der Gesundheitsversorgung zu verbessern – beispielsweise durch die Optimierung von Prozessen. Im Gesundheitssystem ist es daher nötig, durch die richtige Setzung der Anreizstrukturen genau solche Win-Win-Situationen nutzbar zu machen.
Seminarleitung: Florian Hey & Max Zombek
Text & Bilder: Matthias Göhner
Anmerkung:
Franz-Josef Kölzer, Beisitzer für Gesundheitspolitik der Deutschen Sauerstoff- und BeatmungsLiga LOT e.V. und Seminarteilnehmer, hat im Zuge unseres Wochenendseminars einen Aufsatz verfasst.
Der Artikel ,,Gesundheit als Markt – Was kann Selbsthilfe da noch leisten? ‘‘, wurde von der Deutschen Sauerstoff- und BeatmungsLiga LOT e.V. in der 37. Ausgabe des Magazins 02 – Report publiziert. Neben den Seminarinhalten wird das deutsche Gesundheitswesen kritisch hinterfragt sowie die gesellschaftspolitische Rolle der Selbsthilfeinstitution im Gesundheitsmarkt erörtert.
Den vollständigen Artikel findet ihr hier:
,,Gesundheit als Markt – Was kann Selbsthilfe da noch leisten?“