Hängematte oder Existenzbedrohung – Die Soziale Sicherung in Deutschland

Vom 01.-03. November 2019 fand in der Theodor-Heuss Akademie in Gummersbach das Seminar “Hängematte oder Existenzbedrohung – Die Soziale Sicherung in Deutschland” statt. An diesem Wochenende haben wir uns intensiv mit der Frage der Sozialen Sicherung in Deutschland auseinandergesetzt. Neben Grundlagen zu den ökonomischen Denkweisen und Grundsätzen der verschiedenen politischen Philosophien zum Sozialstaat, wurde diskutiert, inwieweit der deutsche Sozialstaat in der jetzigen Form in einer Sackgasse stecken könnte. Dabei standen vor allem zukünftige Herausforderungen wie der demografische Wandel und die Digitalisierung im Mittelpunkt der Diskussion. 

Zudem konnten wir in zwei Exkursen auf das Konzept des bedingungslosen Grundeinkommens und dem chinesischen Sozialkredit als mögliche Form des Nudging in einem Sozialstaat eingehen. Abschließend haben die Teilnehmer ihre Thesen für einen liberalen Sozialstaat entwickelt. In der Ergebnisdiskussion wurde deutlich, dass die Teilnehmer verschiedene Vorstellungen von einem liberalen Sozialstaat haben. Insbesondere bei der konkreten Ausgestaltung der Sozialleistungen gab es Uneinigkeiten. Einig waren sich die Teilnehmer darin, dass ein liberaler Sozialstaat aktivierend, flexibel, zielgenau, bedarfsgerecht sein sollte und die Chancengerechtigkeit in der Gesellschaft sichern sollte.

Das Seminarprogramm begann am Freitagabend mit einer Einführung in die ökonomischen Grundbausteine und die politische Ökonomie des Sozialstaats. Prof. Dr. Thomas Schuster, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Mannheim, führte in die Systematik der Deutschen Sozialleistungen bestehend aus der Sozialen Grundsicherung, den verschiedenen Sozialversicherungen wie Kranken-Renten- oder Arbeitslosenversicherung und Sozialpolitischen Regulierungen ein. Zudem beleuchtete er in seinem Vortrag mehrere Sozialstaats-Statistiken wie die Sozialleistungsquote im internationalen Vergleich.

Prof. Schuster betonte zwar die Bedeutung einer Sozialen Grundsicherung in Deutschland. Gleichzeitig wies er aber auf ein moralisches Risiko von verpflichtenden Sozialversicherungen mit geringen Eigenbeiträgen hin. So würde beispielsweise eine Krankenversicherung ohne Selbstbeteiligung dazu führen, dass die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen steigt und Versicherte weniger Wert auf eine gesunde Lebensleistungen legen. Dieses Anreizprinzip lasse sich Schuster zufolge auch auf andere Sozialversicherungen übertragen. Um das Problem des moralischen Risikos zu lösen, plädiert Prof. Schuster beispielsweise bei der Krankenversicherung für prozentuale Selbstbeteiligungen oder einem absoluten Selbstbehalt.

Am Samstagmorgen führte Prof. Dr. Hartmut Kliemt in die Sichtweisen der verschiedenen politischen Philosophien zum Sozialstaat ein. So sei der liberale Rechtsstaat die Idealform eines minimalen Wohlfahrtsstaates. Passend dazu erklärte Prof. Dr. Kliemt: „Der liberale Rechtsstaatist ein Nanny Staat, nur ist die Nanny darum besorgt, ihre Mündel zu eigenen Entscheidungen zu ermächtigen und den fundamentalen Pluralismus menschlicher Ziele und Werte anzuerkennen.“
Anschließend hat Prof. Henrique Schneider, Chefvolkswirt des Schweizer Gewerbevereins betrachtete mit den Teilnehmern zusammen die aktuelle Situation des deutschen Sozialstaats. Prof. Schneider führte an, dass obwohl die Sozialausgaben auf einem Rekordhoch liegen und es aktuell noch tragfähig erscheint, das System mittelfristig nicht mehr vollständig funktionieren werde. Im Anschluss griff er Möglichkeiten für die Zukunft des Sozialstaats auf, ein Schwerpunkt stellt die Rolle des Staates als Versicherung dar.

Nach dem Mittagessen referierte Fabian Kurz, Promovent an der TU Cottbus und Koordinator des Arbeitskreise Wirtschaft & Soziales über das Bedingungslose Grundeinkommen (BGE). Gesprächsthema war vor allem Themen zur Finanzierbarkeit des BGE. Dabei wurden verschiedene Höhen des BGE und ihre Finanzierbarkeiten beleuchtet sowie die resultierende Sozialstaatsquote mit dem Status quo derzeitiger Sozialleistungen verglichen. So sei ein BGE von 1000 Euro pro Person und Monat bei konstanten Arbeitseinsatz ohne Steuererhöhungen finanzierbar, allerdings reiche dieser Betrag kaum zum Existenzminimum, wenn Gesundheitskosten mit eingerechnet werden. Fabian Kurz stellte zudem heraus, dass sich durch ein BGE die Arbeitsanreize verändern können. Eine bedingungslose Zahlung an jeden Bürger beeinflusst die Arbeits- und Freizeit-Entscheidung eines Arbeitnehmers und kann die gesamtvolkswirtschaftlicheProduktion und Steuereinnahmenund damit die Finanzierbarkeit des BGE negativ beeinflussen.

Am späten Nachmittag hatten die Teilnehmenden Zeit, Argumente für oder gegen eine Soziale Sicherung durch einen umfassenden Sozialstaat zu sammeln. Die Seminarleiter Jonas Wirth und Lars Jagemann führten dabei durch kurze Impulsvorträge in die Argumentation beider Positionen ein. Demnach spricht für eine umfassende Soziale Absicherung vor allem das Konzept der positiven Freiheit. Freiheit ist demnach nicht nur als Abstinenz von staatlichenZwängen zu verstehen sondern auch als Befähigung zu einem selbstständigenLeben, das bestimmte Ressourcen voraussetzt. Gegen einen umfassenden Sozialstaat spricht die Abhängigkeit vom Staat und die dadurch verbundenemangelnde Eigenverantwortung, bürokratische Strukturen sowie mögliche volkswirtschaftliche Schäden durch eine überbordende Sozial- und Steuerlast. Anhand klassischer Sozialstaats-Literatur entwickelten die Teilnehmenden in Gruppen ihre Position unter der Leitfrage ‚Inwieweit brauchen wir einen Sozialstaat?‘

In einem zweistündigen Kamingesprächwurden die Argumente am Abend ausgetauscht und angeregt diskutiert.

Nach vielen spannenden Vorträgen und Diskussionen am Samstag war es am Sonntag Zeit über den deutschen Tellerrand hinauszuschauen.

Mit Anna Marti, Managerin für Global Innovation und Digitalisierung in der Friedrich-Naumann-Stiftung, diskutierten die Teilnehmer über den chinesischen Sozialkredit als mögliches Beispiel für Nudging in Sozialstaaten. Anna Marti betonte in ihrem Vortrag, wie umfassend der chinesischeSozialkredit in das Leben der Chinesen eingreift. Die Teilnehmer waren vor allem über den Einsatz neuer Technologien wie einer Videoüberwachung mit Gesichtserkennung im Straßenverkehr und den massiven Einschränkungen der Chinesen mit schlechten Sozialscore überrascht. Das Fazit im Gesamtkontext des Seminars: Anders als beim Nudging werden beim chinesischen Sozialkredit die Handlungsmöglichkeiten und Freiheiten der Betroffenen massiv eingeschränkt.

Zum Abschluss des Seminars wurde in einer Ergebnisdiskussion über die Frage, wie ein liberaler Sozialstaat gestaltet sein könnte, diskutiert. Neben den Eindrücken, die die Teilnehmer am Wochenende gewonnen hatten, wurde zur Vorbereitung auf Wahlprogramme und Forderungen des organisierten Liberalismus zum deutschen Sozialstaat zurückgegriffen. Die formulierten Thesen zu einem liberalen Sozialstaat der Stipendiaten wurden anschließend an einer Ergebnistafel gesammelt. Während der Diskussion wurde deutlich, dass die Vorstellungen über einen liberalen Sozialstaat weit auseinander gehen. Einige Stipendiaten betonten, dass eine Grundsicherung durch einen liberalen Sozialstaat aufgrund der Menschenwürde geboten ist, während andere Stipendiaten die soziale Sicherung in einem liberalen Sozialstaat eher als Privileg und weniger als Anspruch sahen. Große Einigkeit herrschte darin, dass ein liberaler Sozialstaat zielgenau und bedarfsgerecht bedürftige Menschen versorgen sollte, dabei aktivierend auf Menschen im Sozialstaat wirken und die Chancengerechtigkeit in der Gesellschaft wahren sollte sowie auf effiziente, schlanke und transparente staatliche Verwaltungsstrukturen setzt. Zudem machten die Stipendiaten deutlich, dass ein liberaler Sozialstaat nicht an der Bildung von Kindern sparen darf. Trotzdem müsse – so der Tenor – ein liberaler Sozialstaat Anreize für Eigenverantwortlichkeit und mehr private Vorsorge schaffen und dürfe nicht zu sehr in die freie Preisbildung auf Märkten eingreifen.