Vorfahrt für Erstimpfungen
Impfen ist der Weg aus der Corona-Pandemie. Großbritannien, Israel und die Vereinigten Staaten sind mit ihren Impfkampagnen bereits weit fortgeschritten. In Kontinentaleuropa sind die lebensrettenden Impfstoffe Mangelware, nicht zuletzt wegen einer unglücklichen Bestellpolitik der EU. Angesichts knapper Impfstoffe und großem Leid verursacht durch das Virus bedarf es eines möglichst effizienten Einsatzes der vorhanden Impfstoffdosen. Es kristallisiert sich zunehmend heraus, dass bereits die erste Impfung einen hohen Schutz vor ernsthafter Erkrankung mit Krankenhausaufenthalten und tödlichen Ausgängen bietet. Da der Impfstoff knapp ist, sollten zunächst alle Dosen für Erstimpfungen eingesetzt werden, um möglichst vielen Menschen einen ersten Schutz zu bieten und schwere Verläufe sowie Todesfälle zu verhindern.
Zulassungsstudien: Erste Hinweise auf Wirkung der ersten Dose
Mit Ausnahme des Vakzins von Johnson & Johnson sehen alle in der EU zugelassenen Impfstoffe zwei Impfungen gegen das Corona-Virus vor. Die Abstände zwischen den beiden Impfungen wurden vor allem durch die Dringlichkeit der Zulassungsstudien bestimmt. Je kürzer der Abstand, desto schneller konnten die Zulassungsstudien fertig werden. So wurden relativ geringe Abstände zwischen Erst- und Zweitimpfung gewählt. Die in den Zulassungen genehmigten Abstände sind daher keine „optimalen“ Warteperioden, die eine bestmöglichen Impfschutz bieten, sondern Abstände, für die empirische Ergebnisse vorliegen beziehungsweise initial in den Zulassungsstudien vorlagen.
Die ersten Impferfolgsmeldungen kamen von BioNTech/Pfizer, die einen Schutz von 95 Prozent sieben Tage nach der zweiten Impfung ermittelten. Der zeitliche Abstand zwischen den beiden Impfungen betrug in der Studie drei Wochen. Eine Auswertung der Zulassungsdaten durch die britische Regierungzeigt allerdings, dass ein erheblicher Schutz von 52,4 Prozent bereits zwischen der ersten und der zweiten Dosis besteht. Die Daten legen nahe, dass sich der Schutz circa zehn Tage nach der Erstimpfung aufbaut. Wird der Zeitraum, nachdem sich der Schutz bereits aufgebaut hat, nämlich zwei Wochen nach der Erstimpfung und vor der Zweitimpfung, betrachtet, liegt das Schutzniveau bereits bei 89 Prozent.
AstraZeneca vermeldete nach der Auswertung seiner 2-Dosen-Zulassungsstudie zunächst eine Wirksamkeit von 70 Prozent. Das Unternehmen musste allerdings einräumen, dass bei einem Teil der Probanden die Wirksamkeit geringer war und nur durch einen Zufall eine Probandengruppe eine geringere Dosierung erhalten hatte, die tatsächlich zu einer höheren Wirksamkeit von 90 Prozent geführt habe. AstraZeneca variierte in seiner Studie das Intervall zwischen Erst- und Zweitdosis zwischen vier und zwölf Wochen. Entsprechend sehen auch die jeweiligen Zulassungen der Aufsichtsbehörden einen Abstand von bis zu zwölf Wochen vor.
Der mRNA-Impfstoff des US-Unternehmens Moderna zeigt mit einem vierwöchigen Intervall zwischen Erst- und Zweitimpfung eine Wirksamkeit von 95 Prozent nach der zweiten Impfung. Doch auch die Erstimpfung bietet bereits einen Schutz von über 80 Prozent, wie aus einer Auswertung der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA hervorgeht.
Die aus den Zulassungsstudien abgeleiteten Wirksamkeiten der ersten Impfung sind natürlich mit Unsicherheit verbunden. Dies zeigt sich an den breiten statistischen Konfidenzintervallen. So gibt die FDA ein 95-Prozent-Intervall von 55,2 bis 92,5 Prozent bei der Schätzung der Wirksamkeit von 80,2 Prozent für Moderna nach der ersten Impfung an. Doch alle ausgewerteten Impfstoffe, nicht nur die von Moderna, zeigen eine untere statistische Grenze der Schätzungen, die größer ist als 50 Prozent und damit über der von der WHO formulierten Anforderung einer Wirksamkeit von über 50 Prozent für Corona-Impfstoffe liegt.
Johnsons & Johnson: Einmalimpfung mit Zulassung
Der vierte in der EU zugelassene Impfstoff ist ein Sonderfall. Für den Impfstoff von Janssen Pharmaceuticals, einem Tochterunternehmen des US-Pharmazie- und Konsumgüterhersteller Johnson & Johnson, ist eine einmalige Impfung vorgesehen. Das ist nicht den Eigenschaften des Impfstoffes geschuldet. Er wurde nicht extra für eine Einmalimpfung konzipiert. Vielmehr wurde bei diesem Impfstoff die relevante Studie für die Zulassung mit nur einer Impfung durchgeführt. Vertreter des Unternehmens verweisen bezüglich der Entscheidung, die klinischen Tests mit nur einer Impfdosis durchzuführen, auf Experten unter anderem der WHO, die in diesem Vorgehen eine schnelle und effektive Methode sehen, um die Pandemie zu bekämpfen.
Die Studie von Johnson & Johnson begann Anfang September 2020 und konnte im Januar 2021 erfolgreich abgeschlossen werden. Der Einmalimpfstoff erreicht 28 Tage nach der Impfung eine Effizienz von 85 Prozent, ein ähnliches Niveau wie die britischen Behörden in der dritten Woche nach der Erstimpfung für BioNTech/Pfizer ermittelt haben. Noch während der laufenden 1-Dosen-Studie hat das Unternehmen zusätzlich im November 2020 mit einer 2-Dosen-Studie begonnen.
Erste Dosen zu priorisieren ist nicht revolutionär
Angesichts der hohen Effizienz der ersten Impfung bei allen in der EU zugelassenen Impfstoffen stellt sich die Frage, warum nicht möglichst viele Menschen möglichst schnell mit einer ersten Impfdosis versorgt werden.
Möglichst viele Erstdosen zu verabreichen, indem der Zeitraum zwischen Erst- und Zweitimpfung gestreckt wird, ist mittlerweile kein neuer und unerprobter Ansatz mehr, sondern wird in einigen Ländern seit längerem praktiziert. Konsequent wird diese Strategie im Vereinigten Königreich angewendet. Sowohl beim Impfstoff von AstraZeneka als auch beim Impfstoff von BioNTech/Pfizer, für den keine entsprechenden Zulassungsdaten und Zulassung vorlagen, werden im Vereinigten Königreich seit Ende Januar Zweitimpfungen in einem Abstand von zwölf Wochen durchgeführt. Im Fall Von BioNTech/Pfizer hat sich die britische Regierung – nicht ohne Kritik – bei der Anwendung sogar über die eigene Zulassungsbehörde hinweggesetzt. Nach einer umfangreichen Auswertung sind inzwischen auch die Behörden in Kanada dazu übergegangen, Erstimpfungen zu priorisieren, indem Zweitimpfungen hinausgezögert werden.
Evidenz aus dem Feld
Heute liegen nicht mehr nur Erkenntnisse aus Zulassungsstudien vor. Daten aus dem Vereinigten Königreich zeigen, dass der Impfstoff von AstraZeneca besser wirkt, wenn der Abstand zwischen erster und zweiter Dosis länger ist. Bei einem Intervall von weniger als sechs Wochen ergibt sich ein Schutz von 55,1 Prozent und bei mehr als zwölf Wochen ein Schutz von 81,3 Prozent. Wie die Auswertung der Zulassungsdaten zeigen auch Daten aus Israel, dass der Impfstoff von BioNTech/Pfizer bereits nach der ersten Impfung eine hohe Wirksamkeit hat. Die Wissenschaftler haben eine Reduktion der Erkrankungsrate um 85 Prozent zwischen dem 15. bis 28. Tag nach der Erstimpfung festgestellt und schlussfolgern, dass eine Verzögerung der zweiten Dosis für Länder sinnvoll sei, die mit Impfstoffknappheit und knappen Ressourcen konfrontiert sind, um eine höhere Bevölkerungsabdeckung mit einer Einzeldosis zu ermöglichen.
Immune Escape: Angriff der Mutanten?
Alle zugelassenen Impfstoffe schützen bereits nach der ersten Dosis effektiv vor schweren Erkrankungen. Es spricht daher viel dafür, Erstimpfungen zu priorisieren, um viele schwere Verläufe und Todesfälle zu verhindern. Allerdings wird gegen diesen Vorschlag regelmäßig die Gefahr von Fluchtmutationen (Escape-Mutationen) eingewandt.
Dass die theoretischen Möglichkeiten von Escape-Mutationen bestehen, wird von Experten nicht bezweifelt. Allerdings wird die Möglichkeit als äußerst unwahrscheinlich eingeschätzt. Folgenschwere bisherige Mutationen sind vor allem in Populationen mit hoher Inzidenz aufgetreten. Der Verzicht auf eine Priorisierung von Erstimpfungen könnte folglich zu höheren Inzidenzen führen und damit die Wahrscheinlichkeit einer Mutation erhöhen.
Anzahl der Erstimpfungen maximieren
Die Ergebnisse der Zulassungsstudien deuteten es bereits an: Die Impfstoffe gegen Corona wirken überraschend gut. Erstimpfungen schützen in erheblichen Umfang vor schweren Verläufen und Todesfällen. Der Nutzen jeder zusätzlichen Erstimpfung überwiegt den Nutzen jeder weiteren Zweitimpfung. Angesichts der akuten Impfstoffknappheit und der geringen zusätzlichen möglichen Risiken durch Mutationen sollten derzeit alle gelieferten Dosen zunächst für Erstimpfungen eingesetzt werden. Dabei könnten sich die Verantwortlichen am erfolgreichen Vorgehen der britischen Regierung orientieren und auch bei den mRNA-Impfstoffen von Moderna und BioNTech/Pfizer das Impfintervall auf zwölf Wochen ausdehnen.
Dieser Beitrag von Fabian Kurz erschien zunächst beim Institute for Research in Economic and Fiscal Issues (IREF).